1.682x gelesen 22x abonniert Ausgabe 20/24 14.05.2024 Der Sternenbote Jetzt registrieren

Zeit und Sein Verfasst am : 23.12.2014 13:04


"Die Gerechtigkeit und Nutzlosigkeit meiner Klagen ließen mir einen Keim der Empörung gegen unsere törichten bürgerlichen Einrichtungen in der Seele zurück, weil das wahre öffentliche Wohl und die wahre Gerechtigkeit immer einer anscheinenden Ordnung geopfert werden, die in der Wirklichkeit jede Ordnung umwirft, und die uns die Sanktion der öffentlichen Gewalt für die Unterdrückung des Schwachen und die Ungerechtigkeit des Mächtigen darstellt.
Zwei Dinge verhinderten diesen Keim damals, sich so zu entwickeln, wie er es in der Folge getan hat...erstens, daß es sich bei dieser Gelegenheit um mich handelte, und daß das Privatinteresse, das niemals etwas Großes und Edles hervorgebracht hat, meinem Herzen nicht den göttlichen Schwung geben konnte, der nur aus der reinsten Liebe zum Recht und zum Schönen entstehen soll. Und zweitens der Zauber der Freundschaft, der meinen Zorn durch das Übergewicht eines sanftern Gefühls milderte und beruhigte.

Ich fühle sehr wohl, daß ich, wenn diese Denkwürdigkeiten je das Licht des Tages erblicken, hier das Andenken an eine Tatsache erhalte, deren Spur ich vertilgen wollte; aber ich bringe wider meinen Willen noch ganz andere auf die Nachwelt.
Von dem großen Zweck meiner Unternehmung, den ich nie aus den Augen verliere, und der unumgänglichen Pflicht, ihn ganz und vollends zu Ende zu führen, darf ich mich nicht abwendig machen lassen durch Betrachtungen schwächerer Art, die mir mein Ziel aus den Augen rückten. In der seltsamen, in der ganz einzigen Situation, in welcher ich mich befinde, gehöre ich zu sehr der Wahrheit an, um noch irgend Jemanden anders berücksichtigen zu dürfen. Um mich völlig zu kennen, muß man mich kennen in allen meinen Beziehungen, guten wie schlechten. Meine Bekenntnisse sind natürlicher Weise mit denen vieler andern Leute verbunden; ich spreche die einen wie die anderen mit derselben Offenheit aus, da ich glaube, daß ich gegen Niemanden mehr Rücksichten zu beobachten brauche, als ich auf mich selbst nehme, obwohl ich freilich viel mehr nehmen möchte.
Ich will immer gerecht und wahr sein, von Andern so viel Gutes sagen, wie mir möglich sein wird. Übles nur dann sagen, wenn es mich betrifft und wenn ich dazu gezwungen bin.
Wer kann in der Lage, worein man mich gebracht hat, mit Recht mehr verlangen? Meine Bekenntnisse sind nicht geschrieben, um während meines Lebens oder während des Lebens der dabei interessierten Personen zu erscheinen. Wenn ich Herr über mein Schicksal und das dieser Schrift wäre, so würde sie erst lange nach meinem und nach ihrem Tode das Licht erblicken. Aber die Anstrengungen, welche der Schrecken vor der Wahrheit meine mächtigen Unterdrücker machen läßt, um die Spuren derselben zu vertilgen, zwingen mich, Alles zu tun, was das strengste Recht und die strengste Gerechtigkeit erlauben, um diese Spuren zu bewahren. Wenn mein Andenken mit mir verschwinden müßte, so würde ich, ehe ich jemand bloßstellte, ohne Murren meine ungerechte und vorübergehende Schmach dulden; aber da nun einmal mein Name lebendig bleiben und auf die Nachwelt kommen muß, so bin ich mir schuldig, zu streben, daß mit ihm die Erinnerung an den unglücklichen Menschen nicht erstirbt, welcher diesen Namen trug - so wie er wirklich war, und nicht so, wie seine gewissenlosen Feinde ohne Rast sich anstrengen, ihn darzustellen."


(aus: J. Rousseau´s Bekenntnisse)

geschrieben von marcellous

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