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Leidenschaft am Limit Verfasst am : 22.07.2008 00:11

Was sie in Grenchen/Schweiz
im Stadion „Brühl“ Mixed
Zone nennen, ist ein schmaler
Gang von höchstens 1,50 Meter
Breite zwischen Außenwand des
Stadions und Mannschaftsbus.
Platz bietet dieser enge Korridor
nur ein paar Menschen, und wer
etwas zu spät kommt, muss Ohren
wie Richtmikrofone haben. Oder
von den Lippen lesen können. Am
besten beides, wenn sich Jürgen
Klopp durch die improvisierte Pressekonferenz
lächelt.
Ein knappes Dutzend Journalisten
umringt den neuen Dortmunder
Trainer, der aus seiner breiten
Kappenkollektion diesmal eine
weiße gewählt hat, die Hände wie
immer lässig in den Taschen seiner
Hose vergräbt und tiefenscharf
mit einem Tempo analysiert, das
nur Berufsstenografen mithalten
können.
Die Borussen haben 2:2 gegen
den FC Basel gespielt und ihre
Begabung streckenweise aufl euchten
lassen, in dem Maße, wozu eine
Mannschaft in der Findungsphase
bestenfalls in der Lage ist. Trotzdem
galoppieren Klopp die Worte fast
davon. „Richtig gut“ fi ndet er den
Auftritt seiner Elf, „sensationell“ die
Arbeit seiner Stürmer und „teilweise
überragend“ die Zusammenarbeit
der Innenverteidiger.
Klopp verkauft das Premiumprodukt
Borussia. Er verkauft
Optimismus. Und alle kleben an
seinen Lippen. In Dortmund ist der
Star jetzt der Trainer. Klopp grüßt
als neues Gesicht des BVB. Sein
Terminplan ist auch außerhalb des
Rasenrechtecks eng gesteckt wie
ein Slalomparcours. Interviews.
Pressekonferenzen, Autogramme.
Alle zerren an dem smarten Fußball-
Erklärer aus dem Fernsehen.
„Für ihn gibt es mehr Anfragen als
für alle Spieler zusammen“, verrät
Pressechef Josef Schneck (61).
Die Arbeit beim ZDF hat Klopp
noch populärer gemacht. Ob er
das genießt – oder ob es ihm zur
Last fällt, fragt ein Journalist des
Südkurier. Klopp antwortet: „Ich
registriere es nicht mehr, wenn mir
einer auf die Gabel schaut, bevor
ich sie im Mund versenke.“
Klopp konzentriert sich auf seine
Kernarbeit. Feilt an der Taktik. Büffelt
in den ersten Tagen schnelles
Umschalten bis zum Erbrechen.
„Das ist ein Impuls“, sagt er, „zackzack.
Niemand darf stehen bleiben.“
Dortmunds oberster Fußball-Pädagoge
schreibt ein System aktiven
Handelns als Hauptfach auf den
Lehrplan. Aggressives Anlaufen.
Druck auf den Gegner ausüben.
Pressen. Den Ball früh erobern.
Im Test gegen Basel zieht die
Vierer-Abwehr eine extrem hohe
Linie. 35 Meter vom eigenen Tor
weg. „Man kann nur eine kompakte
Formation herstellen, wenn man
vorne draufgeht“, doziert Klopp.
„Wenn die Viererkette tief stehen
bleibt, hat man ein Problem. Haben
wir Druck in der Aktion, muss die
Viererkette hoch stehen. Haben
wir keinen, müssen die Jungs das
erkennen und Raum und Zeit schaffen,
um umschalten zu können.“
Neven Subotic (19) betet Klopps
Philosophie im Schlaf runter. Und
ist mit dessen Trainingsinhalten
vertraut wie kein Zweiter. „Die
meisten Übungen kenne ich aus
Mainz“, verrät er. Das Training
schlaucht, ohne
dass die Dortmunder
Profis
merken, wie viel
ihnen abverlangt
wird. „Weil alles
mit Ball gemacht wird“, sagt Torhüter
Roman Weidenfeller (27).
Was im Detail probiert wird,
heckt ein Kompetenzteam aus.
Neben Klopp noch seine beiden
Assistenten Zeljko Buvac (46) und
Peter Krawietz (36). Beide gehörten
schon in Mainz zum Stab. Oliver
Bartlett (39) ist jetzt dazugekommen.
Zuständig für die Fitness.
Die eigene sieht man ihm an.
Der bisher beim VfL Osnabrück
beschäftigte Spezialist formte
seinen eigenen Körper als Zehnkämpfer.
Und Ruderer. Bartlett trägt
die Lehre von Fitness-Guru Mark
Verstegen (USA) nach Dortmund.
Dessen innovative Philosophie
revolutionierte einst das Training
der Nationalmannschaft. „Ich bin
froh, dass sich Borussia entschlossen
hat, Verstegens Methode langfristig
zu verfolgen“, betont Bartlett.
Der Diplom-Sportwissenschaftler
schrieb seine Abschlussarbeit über
die schottischen Hochlandspiele,
Baumstammwerfen inklusive. Derart
rustikale Formen der Betätigung
hat Klopp seinen Profi s bisher nicht
abverlangt. Viel komplexer als die
Highländer bei ihrer unkonventionellen
Art des Kräftemessens
beansprucht er sie, wenn er in einer
Trainingsform zum Sprung über
Hürden, zum Tanz durch drei Stangen,
zu Torschuss, anschließender
Flanke und wieder zum Abschluss
bittet. Mittelfeldspieler Tamas Hajnal
(27) entdeckt unter Klopp eine
neue Qualität der Trainingsarbeit
und Belastung. „Du hast drei, vier,
fünf Aktionen von verschiedenen
Positionen aus.
Das ist sehr praxisnah.
In Karlsruhe
ging es bei
Torschussübungen
eben vornehmlich
um den Torschuss.“
Klopp lebt Fußball. Authentisch.
Intensiv. Mit emotionaler Intelligenz.
In Dortmund sind sie heilfroh,
dass er am 23. Mai unterschrieben
hat. Froh wie ein ängstliches kleines
Mädchen, das seinen Vater überredet
hat zu kommen, um eine Spinne
totzuschlagen.
Die Spinne der Borussia heißt
Erfolglosigkeit. Zuletzt nur Platz 13.
Defensiv-Chaos. Miese Stimmung.
Fußball ohne Erinnerungswert.
Viele der so scheinbar grenzenlos
leidensfähigen Fans hatten die Nase
gestrichen voll. Fast alle pilgerten
trotzdem wieder zur Geschäftsstelle
– um eine Dauerkarte zu kaufen.
Man könnte ja was verpassen.
Attraktiven Fußball etwa. Oder
einfach nur Klopp. Diese Dynamitstange
auf zwei Beinen. Diese
ewig dampfende Werbe-Lokomotive.
„Fünf, zehn, vielleicht sogar 15
Prozent“ der bislang knapp 48 000
Kunden habe Klopp zu einem Abokauf
animiert, vermutet Geschäftsführer
Hans-Joachim Watzke (49).
Klopp predigt Leidenschaft. Ans
Limit gehen. Leidenschaft am Limit.
Laufen bis zum Anschlag. Das ist
sein Credo. Wer es nicht befolgt, hat
schlechte Karten.
Wie gut die neue Borussia wird,
weiß niemand. In den vergangenen
Jahren gab es zwischen Anspruch
und Wirklichkeit Platz für einen
40-Tonner. Reicht die Qualität
diesmal? Noch haben die Skeptiker
Hochkonjunktur. Die Borussia, nörgeln
sie, sei eine ewige Baustelle.
Die Skeptiker haben Bauchschmerzen
bei der Abwehr. Sie werfen
die Frage auf, ob Hajnal seine
Klasse auf der Seite so zur Geltung
bringen kann wie im Zentrum.
Sie grübeln, ob die angedachte
Tandem-Lösung vor der Abwehr
(Tinga, Kehl) funktionieren wird.
Dortmund wie immer. Die Welthauptstadt
des Zweifels. Klopp verspricht
nichts. Nach sieben Jahren
als Trainer weiß er, dass sich Qualität
nicht durch Charme und kesse
Formulierungen herbeireden lässt.
Sein Auftrag lautet: die Borussia zu
entwickeln. Wieder in die obere
Tabellenhälfte zu führen. Die Quadratur
des Kreises wird von ihm
nicht erwartet: „Ich habe noch keinen
getroffen, der sagt: Deutscher
Meister – oder mach’ dich vom
Acker!“ Bert van Marwijk, Jürgen
Röber und Thomas Doll machten
sich vom Acker. Wer beim BVB
unterschreibt, schnallt sich auf
einem Schleudersitz fest.
Klopp verzeiht Fehler. Fährt
nicht bei jedem kleinen Missgeschick
gleich aus der Haut. „Aber
es gibt keine Kompromisse bei
elementaren Dingen wie Einsatz
oder Laufbereitschaft“, verrät
Sportdirektor Michael Zorc (45).
Alle geben Vollgas. Bis die Lunge
pfeift. „Verstecken kann sich keiner
mehr“, sagt Weidenfeller.
Kritik und Aufklärung sind
Instrumente seiner Arbeit. Klopp
unterbricht die Übungen oft. Korrigiert.
Justiert sein Ensemble neu.
Felipe Santana dreht den kahlen
Kopf dann so wie ein Hund, der
das Klappern seines Fressnapfes
hört. Direkt hinter dem neuen Brasilianer
souffl iert Paulo Rodriguez,
Dolmetscher. Astrid Keppmann,
Bürochefi n von Zorc, hat ihn im
Dortmunder Auslandsinstitut ausfi
ndig gemacht. Der in Deutschland
geborene Portugiese „soll immer
nah dran sein an Felipe Santana“,
berichtet Schneck. Klopp will nicht,
dass die Ausländer in seinem Team
nur Bahnhof verstehen. Klopp lacht
gern. Dann trägt er ein fröhliches
Feixen im Gesicht. Wie Max und
Moritz, als sie Witwe Bolte die Hühner
stahlen. Klopp besitzt die Gabe,
Menschen für sich einzunehmen.
Auf seine Seite zu ziehen. Darauf
reduzieren lässt er sich nicht. Er
hat mehr als nur den charmanten
Sonnyboy im Repertoire, der hochfl
iegende Erwartungen mit größter
Gelassenheit schultert.
Klopp kann auch anders. Laut.
Und deutlich. Als er in einer Übung
vier Kontakte fordert und dennoch
auf dem Rasen eine Art von
Freistil-Fußball praktiziert wird,
bellt er: „Das war kein Vorschlag
von mir.“ Kein Vorschlag, sondern
ein Befehl. Und als in einem von
bunten Hütchen markierten Parcours
offenbar das Gefühl für ein
strukturiertes Miteinander verloren
geht, schnauzt Klopp die Gruppe
an: „Wenn jemand farbenblind ist,
soll er mir das sagen!“
Klopp beklagt sich nicht öffentlich.
Aber ihn wurmen die ständigen
Quervergleiche mit Thomas Doll.
Dass er als Abziehbild seines Vorgängers
gilt, passt ihm nicht: „Doll
war ein großartiger Spieler und ist
mit Sicherheit ein sehr guter Trainer.
Aber weder ist Doll wie Klopp, noch
ist Klopp wie Doll. Ich muss und will
mich mit niemand vergleichen.“ An
Doll, den früheren Coach, erinnert
nur noch das Nummernschild eines
Fanmobils (DO-LL). Was Disziplin
angeht, sind härtere Zeiten angebrochen
beim BVB. „Klopp duldet
es nicht, dass sich jemand neben
die Gruppe stellt“, versichert Zorc.
Und noch ein Vergleich macht die
Runde. Der mit Jürgen Klinsmann.
Klopp entfaltet sein weit ausladendes
Lächeln, er bleckt die Zähne,
und was dann folgt, geht in einer
Mixtur aus fröhlicher Selbstironie
und feiner Spitze als bester Spruch
des Trainingslagers in die Annalen
ein: „Ich war als Fußballer noch
limitierter als er.“
Sich als ehemaligem Aktiven
begegnet Klopp ohnehin mit einer
bissigen Süffi sanz. Als A-Klassen-
Trainer wäre er ganz sicher
gescheitert, behauptet er. Er habe
sich lange genug mit schlechtem
Fußball herumgeschlagen, „und
zwar mit meinem eigenen“.
Dietrich Weise hat ihn trotzdem
entdeckt. Der ehemalige DFBNachwuchstrainer
(U-20-Weltmeister
1981) spürte wohl, dass Klopp so
lange kämpft, bis der Platzwart das
Licht ausschaltet. Oder ein unzufriedener
Vereinsfunktionär. Die in
Dortmund werden die Finger vom
Schalter lassen. Weil sie dann selbst
in Dunkelheit versinken würden.

geschrieben von herr_taktik

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