21.851x gelesen 104x abonniert Ausgabe 13/24 28.03.2024 Der schwarze Abwasserkanal Jetzt registrieren

Sherlock- Katerstimmung Verfasst am : 20.06.2018 23:15

Einige Stunden nach der Geliehenen Trommel

Sherlock saß in seiner unbeleuchteten Wohnung und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Es war mittlerweile drei Uhr am Morgen und er verschwendete keinen Gedanken an Müdigkeit. Sein unwegsamer Geist hatte ein Problem entdeckt, von dem er geglaubt hatte, es gelöst zu haben. Doch immer mehr wurde ihm klar, dass Moriarty von Anfang an nicht das Problem war, etwas das ihm der Doktor schon vor ein paar Tagen durch die Blume souffliert hatte. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie sehr sich auch die Rolle seines Bruders verändert hatte. Er selbst fühlte sich, als hätte er den Körper eines völlig Fremden übernommen, und ihm damit gleichzeitig eine Biographie genommen, die so überhaupt nichts mit seiner eigenen zu tun hatte. Eines aber war geblieben. Die Skripalaffäre überschattete immer noch die Schlagzeilen der Presse, und man wurde nicht müde den Schuldigen bereits zu kennen, obwohl es keinerlei Beweise gab. Hätte er jemals einen Fall in dieser Art an seine Klienten als gelöst übergeben, man hätte ihm zumindest das Honorar gestrichen.
Irgendjemand polterte auf der Treppe herum. Dem Keuchen zufolge war es John, der sich angesichts seines Zustandes nicht mehr nach Hause traute. Außerdem hatte er noch zwei volle Einkaufstüten gelagert, deren Inhalte sich nach einem Kühlschrank sehnten. Ohne anzuklopfen torkelte er durch die Tür, und machte sich auf seinem alten Sessel breit. „Isch hab übrigens dein Wasser bezahlt.“, grummelte er müde. Sherlock nickte zufrieden und schwieg. Kurz darauf schnarchte es behaglich aus dem Sessel. Sherlock widmete sich währenddessen dem Internet.

Am nächsten Morgen.

Sherlock hastete aufgeregt durchs Zimmer. Ständig wiederholte er dabei einen Satz. „Ich war ein solcher Idiot!“ Inzwischen erwachte auch John Watson in seinem Sessel. Von Kopfschmerzen geplagt, nahm er die Aufregung wahr. „Erzähl mir mal was neues“, stöhnte er. Sherlock hielt inne. „Wurde auch Zeit, dass du wach wirst. Wir werden die Skripalaffäre untersuchen!“
„Och, Sherlock, ich dachte wir hätten das hinter uns gelassen!“, wimmerte der unter seinem Brummschädel leidende John Watson.
„Wir haben die ganze Zeit den Falschen gejagt!“, beharrte Sherlock. In seinen Augen blitzte die Entschlossenheit eines hungrigen Tigers. John hielt sich verzweifelt den Kopf. „Und wen jagen wir jetzt?“
Statt zu antworten rief Sherlock nach Mrs Hudson, und zwar in einer Lautstärke, die Johns Schädel noch mehr zum Brummen brachte. Nebenbei warf er ihm ein paar Zeitungen in den Schoß. „Unsere Presse ist sich darüber einig, dass Russland verantwortlich ist, weil unsere Regierung sich auch darüber einig ist. Ganz Westeuropa scheint sich darüber einig zu sein, aber es gibt keinerlei Beweise. Lediglich die Amerikaner halten sich zurück. Jemand spielt mit dem Geist der Massen. …MRS HUDSON!“
„Bitte schrei nicht so, mein Kopf…“
„Hätte ich jemals einen solchen Fall als gelöst abgegeben, ich wäre heute arbeitslos! …Wo bleibt Mrs Hudson? MRS HUD…“, schimpfte Sherlock.
„Sherlock, bitte…“
Endlich öffnete sich die Tür. Mrs Hudson betrat wütend den Raum. „Sherlock! Sie haben seit zwei Monaten keine Miete bezahlt, und jetzt unterbrechen Sie meinen Schlaf? Ich habe allmählich die Nase voll von Ihnen!“
Sherlock wirkte überrascht.
„Sie sehen so anders aus, Mrs Hudson. Sind Sie geschminkt?“
„Lenken Sie jetzt nicht vom Thema ab, Sherlock! Was wollen Sie?“, erwiderte die alte Frau gereizt.
„Eine Kanne Tee wäre nicht schlecht. …Falls Sie dazu in der Lage sind.“ Der als humorvoll geplante Unterton in Sherlocks Stimme verfehlte seine Wirkung wie ein kurzer Regenschauer in der Wüste. „Sollte das etwa witzig sein? Machen Sie sich Ihren Tee gefälligst selbst, ich habe einen Mordfall zu lösen!“, erwiderte Mrs Hudson stolz und warf die Tür hinter sich zu. John Watson spendete spontanen Beifall.
„Verstehst du jetzt was ich meine, John?“, wandte sich Sherlock verzweifelt an seinen Kollegen.
„Ich verstehe nur, dass dein Weg die Sache aufzuklären, indem du uns alle in ein Zeitabenteuer mit dem Doktor gestürzt hast, die Sache offensichtlich verkompliziert hat. Und irgendwie gönne ich dir das auch.“, gab John mit einem schadenfrohen Grinsen zu verstehen. Sherlock warf ihm einen giftigen Blick zu. „Und du hast scheinbar noch nicht begriffen, dass wir es mit Denkfabriken zu tun haben, die dem Gedanken der Überbevölkerung durch die Menschen ernsthaftes mediales und politisches Gewicht verleihen. Ein gewisser Milliardär namens Will Hates hat bei Markus Landser ganz unverhohlen zugegeben, dass sein weltweites Impfprogramm der Reduktion der Weltbevölkerung dient, während in der Bevölkerung der Sinn einer Impfpflicht diskutiert wird. Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Offensichtlich soll eine ganze Generation von „Ja“ schreienden Konsumenten erschaffen werden, die weder in der Lage sind Fragen zu stellen, geschweige über entsprechende Fragen überhaupt nachzudenken! Lies dir nur die Zeitungsmeldungen durch!“ Wütend warf er John die schon gelesene Zeitungslektüre in den Schoss. Und was da alles in den Schlagzeilen zu finden war. Terror hier, Terror da, Staatsverordnete und sich gut verkaufende Feindbilder, geschürte Ängste, steigende Armut, steigender Reichtum, Gewalt aus den Armenghettos. Und das war nur der Anfang. Es folgten Lebensmittelskandale, Insektensterben, Klimawandel, Pharmaindustrie, Autoabgasskandale, und natürlich, wer könnte sie vergessen: Flüchtlinge. Jeder der beim hören und lesen der täglichen Meldungen nicht sofort ein schlechtes Gewissen bekam, die im Überfluss auf einen einprasselten, fand sich allein mit seinen Gedanken bereits auf der Seite einer nicht tolerierbaren Minderheit, die gefühlt immer größer wurde, während die wenigen reichen Verwalter der Nachrichten alles andere als im Verdacht standen die Sorgen und Ängste, die sie rührselig in ihren Artikeln verarbeiteten, persönlich zu teilen. Das Wechselspiel zwischen subtil gestreuter Hasskultur, und der Bereitschaft diese medienwirksam ausarten zu lassen funktionierte nahezu perfekt.
„Du hast dir wirklich eine Sendung mit Markus Landser angesehen?“
„Wenn es um wirkliche Recherche geht, hältst du dich ja gewöhnlich zurück.“, antwortete Sherlock schnippisch.
„Ich wüsste nicht, wie diese Tratschsendung mich irgendwie weiterbringen sollte, zumal der Typ einem immer dazwischen quatscht wenn es droht interessant zu werden. Viel wichtiger scheint mir die Frage, warum Mrs Hudson plötzlich Mordfälle untersucht.“
„Ich vermute, der Doktor steckt dahinter.“, orakelte Sherlock, ohne, dass ihn das Thema weiter zu interessieren schien. John schüttelte verzweifelt mit dem Kopf.
„Was ich damit sagen will, Sherlock: Wir können die Welt nicht ändern. Sie ist vielleicht perfekt, wir sind es nicht, aber wir sind auch nicht diejenigen die sie ändern werden, wir klären Mordfälle auf! Wir sollten uns mit dem begnügen was wir tun können, und uns nicht zu einem neuen Guy Forbes der Geschichte aufschwingen.“
Sherlock warf ihm einen finsteren Blick zu. „Dein Mangel an Ehrgeiz, verbunden mit deiner üblichen Ignoranz ist so trostlos ermüdend. Wer, wenn nicht Menschen wie wir, wurden dazu geboren diese Missstände aufzudecken?“
John Watson erhob sich langsam aus seinem alten Sessel. „Es hat keinen Sinn mit dir, Sherlock. Du magst mit vielem Recht haben, aber dein Weg führt unweigerlich auf den Pfad der Selbstzerstörung, und den bin ich nicht mehr bereit mit zu gehen. Ich habe eine Frau. Mary ist schwanger. Und wenn du noch einen Funken Vernunft in dir hast wäre ich der glücklichste Mensch der Welt, wenn du diesem Kind als Patenonkel zur Verfügung stehst. Und Mary wäre es auch.“
Sekunden des Schweigens vergingen.
„Und was, wenn wir beides vereinen?“
„Leb wohl, Sherlock.“, seufzte John und trabte langsam zur Tür. Und so sehr es Sherlock auch drängte den alten Freund aufzuhalten. Er konnte es nicht. Fast zum Trotz ließ er sich vor seinem Laptop nieder und studierte die Vorträge eines gewissen Dr. Daniel Ganser auf Youtube, einen Schweizer Historiker, der einst -hoch gelobt- mit Terrorforschung seinen Doktortitel verdiente. Kaum aber hatte er es gewagt den größten Terroranschlag aller Zeiten zu untersuchen, den die Welt je erschüttert hatte, wurde er von der intellektuellen Elite als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt. Sherlock liebte diesen Mann jetzt schon.

Bevor John Watson die Bakerstreet 221 b verließ, machte er noch einen Zwischenstopp bei Mrs Hudson. „Der Tee ist bereits vorbereitet, John.“, begrüßte sie ihn mit einem freudigen Lächeln. John erwiderte das Lächeln kläglich. „Ich wollte mich nur von Ihnen verabschieden, Mrs Hudson. Kommen Sie Mary und mich gern jederzeit besuchen. Wir könnten eine Patentante wie Sie gut gebrauchen.“
„Sie haben sich also wieder mal gestritten.“, vermutete die alte Dame nicht zu Unrecht.
„Ist nicht so wichtig.“, wiegelte John die Vermutung sofort ab und nahm höflicherweise die Einladung zum Tee an.
„Paperlapp, John. Sie zwei sind doch ohne einander hilflose Werkzeuge in einer Welt, die nach mehr als nur einer Antwort sucht, und in jedem Irrtum eine Bereicherung sieht um der Erkenntnis auf die Spur zu helfen. Sie kriegen sich schon wieder ein.“, versuchte Mrs Hudson Johns gedanklichen Wogen zu glätten.
„Ich wünschte, es wäre diesmal so einfach.“, entgegnete John müde.
„Glauben Sie einer alten Frau. Es ist so einfach. Und jetzt trinken Sie Ihren Tee!“, forderte sie, ohne auch nur den Hauch eines Widerspruchs gelten zu lassen. John setzte sich und schlürfte nachdenklich seinen Tee. Dann fiel ihm etwas ein. „Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen jetzt Mordfälle lösen zu wollen?“ Beinahe schämte er sich für seine Frage, doch lenkte sie ihn zumindest von Sherlock ab.
„Das fragen Sie am besten Mister Stringer. Ich habe ihn gestern Abend beim Taubenfüttern im Park kennen gelernt, als Sie gerade auf Sauftour waren. Er hat mich auf einen gewissen Fall in Baskerville Hall aufmerksam gemacht und meine Neugier geweckt. Er müsste gleich hier sein.“, antwortete Mrs Hudson und füllte eine weitere Tasse Tee nach. John wurde hellhörig. Aber nicht wegen Mister Stringer, sondern vor allem deswegen, weil er diesen Fall zusammen mit Sherlock schon vor Jahren gelöst hatte.
„Verdammter Mistkerl“, grummelte er vor sich hin und starrte in Richtung Zimmerdecke.
„Wie meinen?“, erkundigte sich Mrs Hudson schnell. In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ein alter Mann öffnete schüchtern die Tür und entschuldigte sich sofort. „Ich komme doch hoffentlich nicht ungelegen, Miss Marple?“
Noch bevor John etwas einwerfen konnte, übernahm Mrs Hudson sofort den Part des Antwortens. „Ich nehme an, Sie haben Neuigkeiten, Mister Stringer?“
„Und ob!“, erwiderte der alte Mann euphorisch, und das lag nicht an dem was er zu sagen hatte. „Sie hatten absolut Recht mit Ihrer Vermutung, dass auf Baskerville Hall etwas nicht stimmt. Störe ich auch wirklich nicht?“ Sein verunsicherter Blick blieb an John Watson hängen. „Keine Sorge, der Doktor wollte ohnehin gerade gehen, ist es nicht so, Doktor Watson?“, stellte Mrs Hudson die Richtlinienkompetenz im Raum sofort klar.

Wenige Minuten später

John stand noch eine gefühlte Ewigkeit vor dem Eingang der Bakerstreet 221 b. Immer mehr kam ihm diese Adresse wie ein Ort vor, die der Doktor mit seiner TARDIS als eine intergalaktische Experimentierbude nutzte.
Aber nicht mehr für ihn. Ihn erwarteten alle Freuden und Leiden eines Vaters, und das war weit bedeutender als Kriminellen nachzujagen.
Jedenfalls für den Augenblick.

geschrieben von gottileini

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Kommentare

Cooker schrieb am 21.06.2018 11:23 Uhr

Es geht de facto nicht um EINE Generation perfekt heran gezüchteter Konsumenten: Das funktioniert schon seit GenerationEN.

Bin gespannt, was die zerstrittenen Unzertrennbaren mittels zuarbeitender Protagonisten wie dem aufsteigenden Star am Himmel der Ermittlerinnen, noch ans Licht befördern werden.