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TRAUMHAFT (3) Verfasst am : 13.03.2010 18:56

Lebhaft träumen oder traumhaft Leben?

In einer Kneipe sitzt mir mein Freund L. mit einem großen Glas Bier gegenüber, zieht ein Feuerzeug aus der Hosentasche, zündet mit einer gewissen Feierlichkeit die auf unserem Tisch stehende Kerze an, als wolle er eine wichtige Rede zeremoniell einleiten, und sagt:
„Das Leben kommt mir mittlerweile wie ein Traum vor.“
Ich schaue in sein Gesicht, etwas erstaunt über die ungewöhnliche Eröffnung, und erwidere, ihm zuzwinkernd:
„Wirklich? Dann ist dein Leben wohl gerade sehr schön, ja?“
Er aber schüttelt heftig den Kopf, als müsse er einen ganz unsinnigen und falschen Gedanken wie ein lästiges Insekt verscheuchen, und erklärt:
„Nein, ich meine nicht: schön wie ein Traum. Ich meine: unwirklich wie ein Traum. Ich meine: Das Leben hat für mich an Wirklichkeit verloren. Nichts scheint mehr echt zu sein. Es ist, als widerfahre mir alles nur noch, als sei das Leben etwas, in dem ich kein von eigenem Willen erfüllter Akteur mehr bin, sondern etwas, das an mir geschieht. Als stünde ich neben oder über mir und sähe mich wie einen Fremden, dessen Handlungen ich mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Staunen beobachte. So wie man sich manchmal im Traum selbst sieht: wie einen Anderen. Das habe ich gemeint, als ich sagte, das Leben sei für mich zum Traum geworden.“
Ich erschrecke darüber, dass ich seine Worte zuerst so ganz und gar falsch verstanden hatte. Während ich nun sein Gesicht mustere, erkenne ich auch, dass er überhaupt nicht froh aussieht. Als hätte er meine Gedanken gelesen, bestätigt er:
„Ich weiß, ich sehe nicht sehr froh aus. Und der Grund dafür ist die Traumhaftigkeit meines Lebens. Verstehst Du? Alles wie im Traum. Denke an irgendeinen Traum: er beginnt zum Beispiel damit, dass du in einem Fahrstuhl bist oder in den Bergen oder in der Wohnung deiner Eltern, egal wo; es fehlt aber das Motiv, die Intention. Du bist einfach dort, wurdest dort hingeworfen, wie von unsichtbarer Hand. Du fragst dich im Traum nicht: wie bin ich doch gleich hierhergekommen, in diesen Fahrstuhl? Du akzeptierst es als gegeben. So ist es nun: ich akzeptiere alles als gegeben, lebe ohne Intentionen und die Dinge in der Welt fühlen sich immer weniger echt an.“
Er zündet sich eine Zigarette an, bläst angespannt Rauch in Richtung der Kneipendecke und beobachtet ihn aufmerksam, als würde die Plastizität der kleinen Wolken dem Leben wieder mehr Wirklichkeit verleihen. Dann fährt er fort:
„Früher dachten die Leute, Gott oder irgendwelche Geister würden den Traum senden. Das glaub ich nun nicht im Geringsten. Aber genauso wenig ist es das Ich, das träumt. Oder?“
„Was denn dann? Sagst du nicht, wenn du jemandem einen Traum erzählst: Ich habe geträumt?“
„Trotzdem berichte ich dann von einem Ereignis, das sich in meiner Vorstellungswelt ohne mein Zutun vollzogen hat, unkontrolliert, scheinbar absichtslos. Ein Traum ist etwas, das zu mir gehört, aber nicht von mir gemacht wird. Es war vielleicht so falsch nicht, wenn früher gesagt wurde: Mir hat geträumt. Das ist mein Leben geworden: etwas, das ich zwar wahrnehme, das aber im Grunde ohne mich stattfindet. Wie ein Mir hat geträumt. Manchmal will ich aufwachen und merke dann, dass ich ja wach bin. Verstehst du? Es ist unerträglich.“
„Wie genau meinst du: die Dinge fühlen sich immer weniger echt an?“
„Gestern habe ich Tomaten an die Wand meiner Küche geworfen und beobachtet wie sie zerplatzen und ihr Saft an der Tapete zu Boden rinnt. Aus irgendeinem Grund hatte ich plötzlich gedacht, auf diese Weise ein Gefühl von Wirklichkeit zu gewinnen, aber es war ein Irrtum. Gerade auch wie ich die Tomaten an die Wand warf, war unwirklich und ängstigte mich: Als würde nicht ich meinen Arm bewegen, sondern ein Anderer. Da habe ich ein Messer genommen und die Haut meines Arms aufgeritzt. Das hat etwas geholfen, da sich der Schmerz ganz echt angefühlt hat. Auch das Blut war gut. Echt, meine ich. Aber das hilft doch alles nichts.“
Er bläst wieder Rauch in den Raum und sagt:
„Das Leben darf nicht zum Traum werden. Wie kriege ich die Wirklichkeit zurück? Ich versuche eine Antwort zu finden, antwortete schließlich, bin aber mit dem Gesagten unzufrieden. In der Nacht träume ich von meinem Freund L., der mit Tomaten nach mir wirft, und mich anfleht, ihn aufzuwecken.

von Freund L.

geschrieben von Smoky23

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